• Journalismus und Einblicke zweier Kulturen...

    „Gehen, ging, gegangen“ von Jenny Erpenbeck

    „Leben ist das, was passiert, während du andere Pläne machst…“ Auch wenn der Spruch von Allen Saunders/John Lennon aus dem Jahr 1957 bald in Rente geht, ist er immer noch wahr und trifft auf niemanden mehr zu als auf Migranten und ihre Schicksale. Ganz besonders passt das Bonmot zu diesem Buch, das eine Handvoll Flüchtlingsgeschichten in der Sichtweise eines ostdeutschen Rentners beschreibt. Allesamt gescheiterte Pläne, über die kein Mensch lachen kann. Zusammen aber ein amüsantes Buch. Auch, dass die Autorin im Jahr 2015 auf der Themensuche über ein Zeltlager von afrikanischen Flüchtlingen am Oranienplatz in Berlin gestolpert ist, hat sie ein paar Jahre vorher sicher nicht so geplant. Vielleicht wollte sie einen Roman über alte Apfelsorten schreiben. Der hätte immer gepasst, aber ausgerechnet im August 2015 hat ein Buch über die Begegnung mit Flüchtlingen aus Afrika, deren Hindernisse, Überraschungen, Wege und Chancen den Nagel viel präziser auf den Kopf getroffen als jedes andere Thema. Seit Herbst 2018 liegt der Titel in der spanischen Ausgabe vor. Zu diesem Zeitpunkt war in Deutschland die große Flüchtlingswelle von 2015 und das öffentliche Interesse daran nicht mehr ganz oben auf der Agenda, doch die Menschen, die damals kamen, sind immer noch da und weitere werden kommen. Völkerwanderungszeit. Mal wieder.

    Im Deutschen Radiosender WDR5 werden jeden Freitagabend die „Gedanken zum Schabbat“ gesendet. Vor ein paar Wochen sprach dort ein Rabbiner über das Nomadentum und die wandernden Ursprünge aller Völker. Er nannte es eine Besonderheit, dass manche Menschen ihr Selbstbewusstsein allein aus der Tatsache ziehen, dass sie seit mehreren Generationen am selben Ort leben. Einerseits ist das in der Tat nicht logisch. Andererseits – alle Fundamente von Selbstbewusstsein stehen irgendwie auf glitschigem Boden, Reichtum ebenso wie Schönheit, Glaube, Wissen oder der berühmte gute Name. Mit diesen zwei Seiten der Tatsachen spielt Jenny Erpenbeck in ihrem Buch. Als Rahmenhandlung erlebt man den Alltag eines Prototyps des privilegierten alten weißen Mannes in Berlin. Richard heißt er. Er weiß viel, besitzt viel und hat einen guten Namen als Professor. Durch seine Augen sieht man durch viele Türen und Fenster in die Leben von einer Handvoll geflüchteter Männer. Diese Leben begannen in verschiedenen Ländern Afrikas, wo sie auch mit Wissen, Besitz und guten Namen verbunden waren, aber jetzt nicht mehr. Das Titelbild des Buches besteht aus wirren Fäden – so könnte auch das Konzept zu dieser Geschichte ausgesehen haben. Richard versucht mal dies, mal das. Die Männer, die Khalil, Raschid, Rufu oder Osarobo heißen, ebenfalls. Und doch ist es eine Geschichte aus einem Guss geworden, nicht langweilig und mit vielen netten, informativen und schrulligen Details. Wie Richard versucht, Osarobo klassischen Klavierunterricht zu geben, beispielsweise.

    Der Autorin wurde vom Spiegel vorgeworfen, sie hätte das Buch für Preisjurys und Feuilletonisten geschrieben und das Thema der Saison für sich reklamiert. Die meisten anderen Rezensenten fanden das Buch auf den ersten Blick zu konstruiert und lobten es erst, nachdem sie mehr als die Hälfte davon gelesen hatten. Und zwar aus allen Lagern – bis zu den konservativsten Quellen. Nun, immerhin hat Jenny Erpenbeck das Thema angepackt und nicht über Apfelsorten geschrieben. Lesen müssen tut es keiner. Gebrauchen können wir ihre Gedanken und Beobachtungen aber in vielen Ländern und vermutlich noch längere Zeit: Wie sich Fremde an Fremde annähern ohne eine schwierige Situation noch schwieriger zu machen. Dafür können wir nicht genug lebenspraktische Hilfen an die Hand bekommen.

    Egal, welche politischen Lösungen man bevorzugt, menschlich ist das Buch wichtig, denn es liefert eine große Auswahl an Denkansätzen zu einem unausweichlichen Thema. Und den Luxus, sich alleine in Frieden auf dem Sofa damit zu beschäftigen.

    Jenny Erpenbeck
    Gehen, ging, gegangen
    Knaus Verlag (München, 2015)
    Gebundene Ausgabe, 352 Seiten
    ISBN: 978 3 8135 0370 8

     

     

     

     

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